FREITAG Lab. AG: Ein organisatorischer Generationenwechsel

06. August 2008



Die FREITAG Lab. AG hat mit ihren Taschen aus alten LKW-Planen den Zeitgeist urban-mobiler Kosmopoliten getroffen und weltweit Beachtung gefunden. Zehn Jahre nach der Gründung hatte das Unternehmen eine Grösse erreicht, die mit der aus der Improvisation entstandenen Organisation nicht mehr effizient geführt werden konnte – ganz zu schweigen von weiterem Wachstum und internationaler Expansion. Im Jahr 2004 wurde deshalb der Entscheid für einen organisatorischen Generationenwechsel gefällt. Dessen Umsetzung mit der Einführung eines neuen ERP-Systems und Webauftritts mit E-Commerce wird hier beschrieben.


1. Das Unternehmen

Hintergrund, Branche, Produkt und Zielgruppe
1993 suchten die beiden Grafikdesigner und Brüder Markus und Daniel Freitag nach einer funktionellen, wasserdichten und robusten Tasche für ihre Entwürfe. Inspiriert vom bunten Schwerverkehr, der vor ihrer Wohnung in Zürich vorbeifuhr, entwickelten sie eine Messenger Bag aus alten LKW-Planen, gebrauchten Fahrradschläuchen und Autogurten. Im Wohnzimmer der Wohngemeinschaft entstanden die ersten FREITAG Taschen. Weil der Ausschnitt aus den LKW-Planen für immer neue Farbmuster und -kombinationen sorgt, ist jede Tasche ein Unikat.

In kurzer Zeit wurden FREITAG Taschen zum Hip-Produkt. „Bequembar, radfahrbar, erweiterbar, unkaputtbar“ waren innovative Attribute. Was den Härtetest „eines der wildesten Bike-Messenger von San Francisco“ bestanden hatte, musste bei „urban-mobilen büro-gestressten lifestyle Kosmopoliten“ nicht mit einer edlen Oberfläche punkten. Mit der Aufnahme in die Designsammlung des Museum of Modern Art in New York wird die FREITAG Tasche bereits 2003 zum Klassiker. Sie gilt heute als Meilenstein für „urban fashion“.

15 Jahre nach der Gründung produziert die FREITAG Lab. AG jährlich 170'000 Taschen in 40 verschiedenen Modellen. Rund 70 Personen stehen auf der Lohnliste, etwa 60 in der Zentrale und Fertigung in Zürich, die anderen in drei Flagship Stores. Mit Ausnahme der Näharbeiten, die an Nähereien in der Schweiz und im Ausland vergeben werden, erfolgt die Herstellung in Zürich. FREITAG sieht seine Kernkompetenz in der Designsteuerung: Der knappe Rohstoff der gebrauchten Lastwagenplanen muss beim Zuschnitt so verwertet werden, dass die sich daraus ergebenden Taschen ein attraktives Design aufweisen. In der separaten Produktionslinie F-Cut werden einige Taschen entsprechend den von Onlinekunden im Internet selbst vorgenommenen Zuschnitten gefertigt.

FREITAG Taschen werden weltweit verkauft, primär in Grossstädten. Der kleinere Teil des Umsatzes wird via Direktverkauf erzielt, der grössere über den Einzelhandel. Der Direktverkauf erfolgt über die drei Flagship Stores in Zürich, Davos und Hamburg sowie online. Der Produktversand für online bestellte Taschen erfolgt für die Schweiz und Nicht-EU-Länder ab Zürich, für EU-Länder ab Hamburg.

Der Eintritt in ein neues Land erfolgt über den Einzelhandel. Parallel zu den Einzelhandelsumsätzen entwickeln sich die Onlineumsätze annähernd proportional offensichtlich lernen Kunden die Taschen in einem Geschäft kennen und suchen sich später im Onlineshop ihr persönliches Modell aus. Die zunehmende Bekanntheit der Marke FREITAG ermöglicht ein virales Wachstum vor allem in Europa und Japan. In Japan ist ein Distributor zwischengeschaltet. In den USA und Grossbritannien erweisen sich die Markterschliessungskosten als überdurchschnittlich hoch, so dass die Anstrengungen dort eher reduziert werden.

Unternehmensvision
Im Jahr 2007 wählten die Gründer den Begriff Rekontextualisierung für ihre Geschäftsidee und heben sich damit vom Recycling ab. Die Marke „FREITAG“ hat sich etabliert, indem sie die Wiederverwendung von Materialen in einem vom ursprünglichen Einsatzbereich gänzlich abweichenden Zusammenhang praktiziert. Auf die Nachhaltigkeit der eigenen Tätigkeit wird dennoch Wert gelegt, ökologische und soziale Anliegen werden neben den ökonomischen hoch gewichtet.


FREITAG möchte weiter wachsen. Die Herausforderung besteht darin, die Marke spannend zu halten. Dazu sollen weiterhin Designs und Produkte entwickelt werden, die den urbanen Lifestyle der FREITAG Taschen widerspiegeln.

Die Entwicklung von FREITAG ist durch eine gemeinsame Vorstellung der Geschäftsleitung über die Schwerpunkte der weiteren Entwicklung geprägt. Der Ausbau des Direktverkaufs ist ein Kernelement dieser Zukunftsvorstellung.

Informatik und E-Business werden heute als wichtige Strukturelemente für die weitere Unternehmensentwicklung angesehen. Nachdem im Verlauf des Wachstums die Grenzen von Einzellösungen und Management by Excel sichtbar geworden sind, soll die neue IT-Infrastruktur die Effizienz steigern, die Weiterentwicklung des Unternehmens fördern und neue Handlungsoptionen erschliessen.


2. Der Auslöser des Projekts

Ausgangslage und Anstoss für das Projekt
Etwa zehn Jahre nach der Gründung hatte das Unternehmen eine Grösse und ein Mengenvolumen erreicht, die mit den organisch gewachsenen Organisationsabläufen nicht mehr wirtschaftlich zu führen waren. Es gab keine durchgängige Datenverarbeitung, Daten wurden in verschiedenen Insellösungen und selbst erstellten Excel-Tools mehrfach verwaltet. Dabei konnten einzelne Taschen eines Typs nicht separat abgebildet werden, obwohl es sich um Unikate handelte. Die Voraussetzungen für eine effiziente Abwicklung eines Onlinevertriebs an Endkunden waren nicht gegeben. Der bestehende Onlineshop aus dem Jahr 2000 war nicht mehr zeitgemäss und damit keine Unterstützung der Marke FREITAG. Noch schwerer wog, dass die Taschen-Unikate nicht gut genug abgebildet waren, was eine unbefriedigend hohe Retourenquote und unzufriedene Kunden nach sich zog.

FREITAG entschied sich, einen organisatorischen Generationenwechsel zu vollziehen. Dieser wird im Folgenden beschrieben. Er ging einher mit der Einführung des ERP-Systems ProConcept ERP und eines neuen Webauftritts inkl. Onlineshop.

Vorstellung der Geschäftspartner
Die Geschäftpartner von FREITAG in diesem Projekt waren Sage Pro-Concept AG als Anbieter der ERP-Lösung und Unic Internet Solutions als Partner für die Entwicklung des Webauftritts und Onlineshops.

Anbieter von Business Software
Die Sage Schweiz AG ist einer der grössten Anbieter von betriebswirtschaftlichen Gesamtlösungen in der Schweiz. Sage Schweiz gehört zur britischen Sage-Gruppe mit 5.4 Mio. Kunden und 13'500 Mitarbeitenden.

Das Unternehmen beschäftigt aktuell 380 Mitarbeitende und betreut rund 63'000 Kunden. Neben dem Hauptsitz in Baar in der Innerschweiz ist Sage Schweiz mit weiteren Gesellschaften an zusätzlichen Standorten vertreten, z.B. mit Sage Simultan in Altishofen und Sage Bäurer in Dielsdorf. Sage Pro-Concept mit Sitz in Sonceboz-Bienne hat drei weitere Zweigniederlassungen in der Schweiz und vier im Ausland.

Internet Dienstleister
Unic Internet Solutions beschäftigt an den Standorten Zürich, Bern, Amsterdam und Wien über 100 Mitarbeitende und ist einer der grössten unabhängigen Internetdienstleister in der Schweiz. Seit der Gründung im Jahr 1996 hat Unic Internet Solutions zahlreiche Internetstrategien und -lösungen für Unternehmen entwickelt und so einen grossen Erfahrungsschatz aufgebaut.


3. Eine Organisationsbasis für die internationale Expansion

Eine Organisationsbasis für die internationale Expansion
Im Jahr 2004 begann FREITAG, seine Organisation für eine Zukunft mit weiterem Wachstum fit zu machen. Auf dem eingeschlagenen Weg ist man noch nicht am Ende angelangt, sondern entwickelt die eigenen Möglichkeiten inkrementell weiter. Wesentliche Meilensteine sind aber bereits Mitte 2008 erreicht.

Geschäftssicht und Ziele
FREITAG will weiter wachsen. Das erfordert einen differenzierten und gezielten Ausbau der bestehenden und eine Erschliessung neuer Absatzkanäle. Die Wachstumsmöglichkeiten für FREITAG Taschen liegen vor allem im Ausland, wo man in einigen Ländern eine ähnliche Marktdurchdringung wie in der Schweiz anstrebt. Bei der Evaluation der Wachstumsmöglichkeiten spielt die unterschiedliche Margensituation der verschiedenen Absatzwege eine Schlüsselgrösse (vgl. Abb. 3.1).



Abb. 3.1: Aufteilung des Endkunden-Verkaufspreises in Abhängigkeit vom Verkaufskanal



Abb. 3.1: Aufteilung des Endkunden-Verkaufspreises in Abhängigkeit vom Verkaufskanal

Verkauf via Einzelhandel
Wie bei den meisten Herstellern von Markenprodukten dominiert auch bei FREITAG der Verkauf über den Einzelhandel – die Taschen sind in über 350 Einzelhandelsgeschäften erhältlich. Der Einzelhandel hat eine Marge von etwa 50 % am Endkunden-Verkaufspreis, dieser wird von FREITAG empfohlen. Um Abverkäufe mit Rabatten und einen Preiswettbewerb der Händler zu vermeiden, nimmt FREITAG Artikel, die der Händler nicht verkaufen kann, zurück. Jeder Händler hat ein eigenes Sortimentsprofil, das die bei ihm geführten Modelle definiert. FREITAG berät die Handelskunden bei der Sortimentsdefinition. Zudem bildet FREITAG selbst Kennzahlen zu deren Lagerumschlag und macht den Kunden Vorschläge zu deren Optimierung.

Händler bestellen bei FREITAG mit einem individuell für sie vorbereiteten Orderfax, auf dem die Modelle aus ihrem Sortimentsprofil aufgeführt sind, so dass nur noch die benötigte Menge darin eingetragen werden muss.

Die Händler können sich die einzelnen Taschen nicht aussuchen. FREITAG beliefert sie in Sets mit z.B. 25 Stück je Modell und achtet bei der Zusammenstellung der Sets darauf, dass sie einen attraktiven Mix aus Farben und Designs darstellen. Für die Präsentation der Taschen im Laden stellt FREITAG Boxen zur Verfügung. Diese haben auf der Vorderseite einen Einschub, in den eine zur Tasche gehörende individuelle Beschriftung mit Foto eingeschoben wird. Der Konsument kann dadurch anhand von Grundfarbe und Design entscheiden, welche Box er zu einer genaueren Betrachtung der Tasche aus dem Regal nehmen will.

FREITAG betreut die meisten Händler mit einem eigenen Verkaufsteam. Zur Verkaufsunterstützung können die Händler neben den Kartonboxen auch spezielle Ladenregale, Displays, Poster und andere Artikel für eine ansprechende Warenpräsentation beziehen. Die Lancierung neuer Produkte erfolgt überwiegend über Besuche des Aussendienstes. Punktuell werden bei den Händlern Events wie z.B. „Cut your own bag“ durchgeführt, an dem Kunden an Planenzuschnitten direkt beim Händler partizipieren können.
Die Geschäftsbeziehungen mit den Händlern werden im Customer Relationship Management System ProConcept CRM verwaltet. Dort sind die Ladenausstattung und das Sortimentsprofil der Händler hinterlegt. Wichtige Verträge, Offerten, Abmachungen etc. werden von allen Vertriebsmitarbeitenden im CRM erfasst, so dass diesbezüglich eine vollständige Historie verfügbar ist. Das System kann jegliche Art von Aktivitäten und Aufgaben verwalten und auch in Outlook exportieren – ob diese Möglichkeiten aber genutzt werden bleibt der Arbeitsweise der einzelnen Personen überlassen.

Verkauf via Agenten und Distributor an den Einzelhandel
In einigen Ländern wie den BeNeLux-Ländern wird das FREITAG-Sortiment durch Agenten vertreten. Diese erfüllen die gleichen Aufgaben wie die eigenen Mitarbeitenden im Verkauf, vertreten neben den FREITAG-Taschen aber noch weitere Produkte. Für ihre Auftragsvermittlung erhalten sie eine Provision auf die realisierten Umsätze mit den durch sie betreuten Händlern. Die Provisionsabrechnung ist eine Funktion des ERP-Systems.
In Japan ist zwischen Einzelhandel und FREITAG ein Distributor geschaltet. Er kauft die FREITAG Taschen auf eigenes Risiko und verkauft sie an die japanischen Einzelhändler weiter. Wegen des Margenanteils des Distributors ist FREITAGs Gewinnanteil trotz eines höheren Endkunden-Verkaufspreises kleiner.

Verkauf via Flagship Stores
FREITAG betreibt drei eigene Flagship-Stores. Diese verkörpern das Konzept der Rekontextualisierung auch architektonisch und haben damit auch eine markenprägende Aufgabe. Besonders deutlich wird das am Flagship-Store im Zürcher Industriegebiet Maag-Areal. Er ist aus ausrangierten Transportcontainern aufgebaut. Die Flagship-Stores verkaufen die Artikel zu den gleichen Preisen wie der Einzelhandel. Sie führen die umfassende FREITAG-Modellpalette. Logistisch werden die Stores als Lager betrachtet, die in die FREITAG-Warenwirtschaft integriert sind.
Online-Direktverkauf an Endkunden

Das grösste Ertragspotenzial für FREITAG hat der Online-Direktverkauf an Endkunden, weshalb man diesen Kanal besonders ausbauen möchte. Um hier im Ausland eine nennenswerte Nachfrage zu erzielen bedarf es allerdings der Markterschliessung durch den stationären Einzelhandel (vgl. Kapitel 5.1.1). Sowohl in Bezug auf die Bereitstellung der für den Verkauf benötigten Informationen als auch auf die Logistik erfordert der Online-Direktverkauf andere Prozesse als die zuvor genannten Verkaufskanäle.

Im Onlineshop ist die Unsicherheit des Kunden in Bezug auf das tatsächliche Aussehen der Taschen hoch. Das wirkt sich zum einen in Kaufzurückhaltung, zum anderen in einer vergleichsweise hohen Retourenquote mit entsprechenden Kostenfolgen aus. FREITAG entschied sich deshalb, die Taschen deutlich besser abzubilden. Neu kann jedes Modell online aus der Auswahl hervorgehoben und sowohl geschlossen als auch offen in einer Rundumansicht betrachtet werden.

FREITAG misst dem Onlinemarketing [E-Marketing] eine hohe Bedeutung zu. Als effektive Massnahmen in diesem Bereich werden die Aufnahme neuer Landessprachen und die Verbesserung der Usability angesehen. FREITAG abonniert passende Begriffe bei Google Adwords, bietet einen eigenen Newsletter an und führt Wettbewerbe durch. Weitergehende Massnahmen befinden sich Mitte 2008 in Evaluation.

Logistisch unterscheidet sich der Versandprozess dadurch, dass individuell auswählbare Einzelstücke für den Online-Direktverkauf in separaten Lagern zwischengelagert und einzeln verschickt werden müssen. In allen anderen Verkaufskanälen sind die zu versendenden Taschen eines Modells nicht einzeln bestimmt und der Versand erfolgt überwiegend periodisch als Sammelsendung.

FREITAG strebt eine Lieferzeit von 48 Stunden für die im E-Commerce bestellten Taschen an. Zudem spielen bei Einzelsendungen die Transport- und Zollkosten eine grosse Rolle. Aus diesen Gründen versendet FREITAG Onlinebestellungen in die EU ab seinem Lager in Hamburg, in alle anderen Länder ab Zürich. Das hat zur Folge, dass einem Onlinekunden im Shop jeweils nur die Taschen angezeigt werden dürfen, die im Lager für seine Region vorrätig sind.

Niederlassung in Hamburg
In Hamburg ist bisher FREITAGs einzige Auslandsniederlassung. Sie betreibt den deutschen Flagship Store und wickelt die Auftragsabwicklung für die Onlineverkäufe in die EU ab. Organisatorisch und logistisch soll diese Niederlassung so eng wie möglich mit dem Schweizer Mutterhaus verknüpft sein. Administrativ müssen dagegen alle Warenbewegungen als Intercompany-Geschäfte abgebildet und abgerechnet werden. Die deutsche Niederlassung muss eigene Jahresabschlüsse machen und die Mitarbeitenden sind nach deutschem Recht angestellt.

Beschaffungsmarketing
Einer der Engpassfaktoren für FREITAG ist die Verfügbarkeit ausreichender gebrauchter LKW-Planen in den benötigten Qualitäten, Farben und Designs. FREITAG verarbeitet jährlich etwa 200 Tonnen Planen. Eingehende Planen werden nach Seltenheit ABC-klassifiziert. In der Produktionsplanung wird einmal jährlich ein Farbschlüssel festgelegt, der den Anteil der verschiedenen Farben an der Produktion festlegt. Einige Mitarbeitende beschäftigen sich ausschliesslich mit der Beschaffung der Planen und versuchen, eine genügend grosse Menge insbesondere der knappen Farben wie z.B. Schwarz zu bekommen. Dazu werden die Lieferanten regelmässig kontaktiert und Beschaffungskampagnen durchgeführt.

Ein organisatorischer Generationenwechsel
Um die beschriebenen Verkaufskanäle aufzubauen und effizient zu betreiben war ein organisatorischer Generationenwechsel erforderlich. Er begann 2004 mit einer grundlegenden Überarbeitung der internen Arbeitsabläufe, beginnend beim Eingang der gebrauchten LKW-Planen, über Produktion und Verkauf bis zur finanziellen Abrechnung und Erfolgskontrolle. Einen Überblick über die wichtigsten Primärprozesse gibt Abb. 3.2.


Abb. 3.2: Business Szenario mit den Geschäftspartnern und Primärprozessen bei FREITAG



Abb. 3.2: Business Szenario mit den Geschäftspartnern und Primärprozessen bei FREITAG

Die neuen Prozesse mussten einerseits den Anforderungen der verschiedenen Absatzwege gerecht werden, andererseits durchgängiger, transparenter und effizienter werden. Als Unikate müssen die Taschen zwingend einzeln verwaltet werden. Generell ist der Aufwand zu Herstellung, Verwaltung und Verkauf von Unikaten höher als bei einheitlichen Serienprodukten. All diese Anforderungen erfüllte das integrierte System ProConcept ERP, das 2005 in Betrieb genommen wurde.

Auf der neuen organisatorischen Basis aufbauend nahm sich FREITAG zudem vor, den Online-Direktabsatz des Jahres 2006 bis Ende 2008 zu verdoppeln. Dazu wurde 2007 ein neuer, produkt- und markengerechter Onlineshop freigeschaltet. Dieser wird laufend weiter ausgebaut.

Prozesssicht
Im Rahmen dieser Fallstudie werden die Prozesse „Produktion Taschen“ und „Onlineverkauf an Endkunden“ eingehender beleuchtet.

Produktion der Taschen
Abb. 3.3 zeigt den Prozess in der Übersicht. Die Taschen entstehen in vier Prozessabschnitten mit den Zwischenstadien „Plane zerlegt“, „Plane gewaschen“, „Tasche zugeschnitten“ und „Tasche fertig“. Dieser Produktionsfortschritt spiegelt sich in der Artikelnummernmigration. Dabei ist Artikel 10.00 ein Vorprodukt für Artikel 11.00 usw. Dadurch, dass bereits die Rohstoffe als Unikatartikel geführt werden, kann jedes einzelne Planenstück mit Charakteristika klassifiziert und qualitativ unterschieden werden. Bei Produktionsaufträgen wäre es dadurch möglich, schon bei der Disposition einzelne Planenstücke einem Auftrag zuzuordnen.

Der erste Verarbeitungsschritt der angelieferten LKW-Planen besteht in deren Zerlegung. Dabei werden die brauchbaren Stücke ausgewählt, gewogen, und nach Grundfarbe auf Paletten sortiert. Den Lieferanten werden nur die brauchbaren Stücke vergütet. Für seltene Farben bezahlt FREITAG höhere Grundpreise. Abgerechnet wird nach Gewicht. Im Lager Rohmaterial wird die Menge einer Palette in kg verwaltet. Sie wird über die Palettennummer identifiziert und vor allem durch die Grundfarbe und Qualität in g/m2 charakterisiert. Auf diese Weise hat FREITAG immer einen Überblick über den Vorrat an Rohplanen und kann sich bei der Beschaffung gezielt auf Mangelfarben konzentrieren. FREITAG strebt einen Rohmaterialbestand von etwa einem Jahr an. Aus dem Farbmix des Rohmaterialbestands wird einmal jährlich der Farbschlüssel für die Produktion abgeleitet.

Im zweiten Verarbeitungsschritt werden die Planenstücke gereinigt, fotografiert, genauer charakterisiert und auf Rollen aufgewickelt. Diese erhalten ein Etikett, auf dem das Foto und alle weiteren Merkmale angegeben sind, und kommen dann in ein Rollenlager.


Abb. 3.3: Prozess Produktion Taschen



Abb. 3.3: Prozess Produktion Taschen

Die einzelnen Taschenmodelle werden in Losgrössen von 500 Stück gefertigt. Die Farbverteilung innerhalb eines Produktionsloses geschieht nach dem Farbschlüssel. Vor dem Zuschnitt müssen entsprechen diesem Farbschlüssel Rollen aus dem Rollenlager entnommen werden. Die Auswahl erfolgt durch eine erfahrene Person, die anhand der Rollenetiketten die für das jeweilige Modell bestgeeigneten Planenstücke gemäss Farbschlüssel heraussucht.

Die Planenstücke werden anschliessend mit Hilfe von Schablonen manuell zugeschnitten. Beim Positionieren der Schablonen hat das Erzielen attraktiver Taschendesigns wiederum höchste Priorität, FREITAG hat dazu Richtlinien mit Dos und Don’ts formuliert. Der Zuschneidende wählt die Ausschnitte entsprechend den Designvorgaben und versucht dabei, die Plane möglichst gut zu verwerten. Sein Name wird im Datensatz des Produktionsloses festgehalten und später erscheint auf den Unterlagen der fertigen Taschen das Foto des Zuschneidenden, was die Authentizität der Marke FREITAG unterstützt.

Die Taschenzuschnitte werden als Sets an externe Nähereien versandt. Diese nähen die Taschen zusammen und bringen an ihnen eine Hülle für die spätere Garantiekarte an. Diese Hüllen tragen ein Etikett mit einer Seriennummer und einem Barcode. Die Seriennummer ist der eindeutigen Identifikator der einzelnen Unikate.

Wieder bei FREITAG eingetroffen, werden die Taschen im System erfasst und umfassend dokumentiert. Zur Identifikation wird der Barcode mit der Seriennummer eingescannt und die Charakterisierungsmerkmale der Tasche werden dazu erfasst. Die Tasche wird frontal fotografiert und das Foto dem Datensatz zugeordnet. Mit Foto und Charakteristika kann eine Tasche später mit relativ geringem Aufwand einem Produktionslos und Vertriebsweg zugeordnet werden, auch ohne Seriennummer. Diese Möglichkeit ist z.B. im Zusammenhang mit der Aufklärung von Grauimporten relevant. Neben der mit diesem Arbeitsschritt verbundenen letzten Qualitätskontrolle werden noch die Garantiekarte und weitere Begleitdokumente ausgedruckt und der Tasche hinzugefügt. Abschliessend werden die Taschen in Sets von 25 Stück in Kartons verpackt. Dabei wird darauf geachtet, dass jedes Set einen attraktiven Mix aus Farben und Design enthält, denn ein grosser Teil der Lieferungen an die Händler erfolgt auf Basis dieser Sets.

Onlineverkauf an Endkunden
Der Produktionsprozess endet mit der Bereitstellung der Taschen in einer Form, wie sie für den Verkauf via Einzelhandel einschliesslich der eigenen Flagship Stores geeignet ist. Ein Verkauf in einem Onlineshop hat aber sowohl logistische als auch in Bezug auf die Beschreibung des Artikels weitergehende Anforderungen.
Die Auftragsabwicklung für Onlineverkäufe erfolgt in Zürich und Hamburg. An beiden Orten wird ein spezielles Onlinelager geführt. Es ist dafür eingerichtet, einzelne Taschen zu verwalten und zu versenden. Die Bestückung der Onlinelager erfolgt in Boxen mit je 25 Stück. Zuvor müssen die Taschen aber noch besser fotografiert werden, da Kunden sie ja ausschliesslich auf Basis der im Onlineshop verfügbaren Bilder bestellen (vgl. Abb. 3.4).


Abb. 3.4: Prozesse Vorbereitung der Artikel für Online-Verkauf und Produktverkauf online



Abb. 3.4: Prozesse Vorbereitung der Artikel für Online-Verkauf und Produktverkauf online

Die für ein Onlinelager bestimmten Taschen werden deshalb an einer dritten Fotostation fotografiert. In einem eigens entwickelten Fotoautomat werden sie sowohl geschlossen als auch offen in je acht Bildern rundherum fotografiert. Nach dem Einscannen des Barcodes können die Bildreihen den zugehörigen Produkten zugeordnet werden.

Im Onlinelager angekommen werden die Taschen anhand des Barcodes identifiziert und eingebucht. Dabei wird ihnen eine Web-ID zugeordnet. Sie besteht aus der Modellnummer und einer fünfstelligen fortlaufenden Nummer und erleichtert das Auffinden der bestellten Taschen im Onlinelager. Unter der Voraussetzung, dass die im Onlineshop gepflegten Basisdaten für das Artikelmodell verfügbar sind, können die in das Onlinelager übernommenen Taschen nun für den Onlineverkauf freigeschaltet werden. Dieser Freigabeprozess bewirkt, dass nur die Artikel angezeigt werden, die für das Liefergebiet des jeweiligen Onlinelagers verfügbar sind. Die Onlineshops verschiedener Länder weisen dementsprechend unterschiedliche Produkte auf. Von den freigeschalteten Taschen werden den Kunden im Onlineshop 200 Exemplare je Modell zur Auswahl angeboten.

Hat ein Kunde eine oder mehrere Artikel im Onlineshop bestellt, wird der Auftrag im Onlinelager bearbeitet. Zuvor werden die Auftragsdaten vom Onlineshop an das Warenwirtschaftssystem übermittelt. Die Auslieferung der Pakete erfolgt über einen Paketdienstleister.

Anwendungssicht
Abb. 3.5 zeigt eine Übersicht über die wichtigsten Softwareanwendungen bei FREITAG. Im Zentrum steht das ERP-System ProConcept 9.5 von Sage mit den Modulen Finanzen, Personal/Lohn, Einkauf, Verkauf, Produktionsplanung und steuerung, Warenwirtschaft sowie CRM mit Kampagnenmanagement. In ProConcept ERP wird je ein Mandant für die Schweiz und für Deutschland geführt. Transaktionen zwischen diesen beiden Mandanten wie Bestellung, Lieferschein und Rechnung werden automatisch auf beiden Seiten abgebildet. In Deutschland wird eine externe Finanzbuchhaltung genutzt. Dazu werden die in ProConcept ERP angefallenen Buchungsdaten über eine SQL-Abfrage ermittelt und für die Weitergabe in eine Datei exportiert.

Die Flagship Stores arbeiten mit einem Kassensystem, das über eine individuelle Kassenanbindung mit ProConcept ERP integriert ist. Die drei Shops werden im ERP-System als externe Lager geführt. Jede Kasse hat eine eigene kleine Datenbank, in der die Lagerbestandsdaten des Shops sowie Preise etc. hinterlegt sind. So ist jede Kasse auch im Fall eines temporären Netzausfalls eigenständig funktionsfähig.

Abb. 3.5: Anwendungssicht zu FREITAG


Abb. 3.5: Anwendungssicht zu FREITAG

Der auf der Basis des Systems Hybris entwickelte Onlineshop verwaltet Produkt-, Kunden- und Bestandsdaten in dem Umfang, wie er für den Onlineverkauf erforderlich ist. Im Vergleich zum ERP-System sind vor allem die Produktdaten ausführlicher, da sich der Kundenentscheid ausschliesslich auf die bereitgestellten Produktinformationen abstützen kann. Ein wichtiger Bestandteil dabei sind die Produktfotos und die Rundumansichten, die aus einer separaten Datenbank abgerufen werden. Da FREITAG die Beziehung zu Onlinekunden kontinuierlich intensivieren will, werden Kunden auf der Onlineplattform unabhängig vom ERP-System verwaltet – in ProConcept ERP werden Endkunden nicht einzeln unterschieden sondern als Sammelkunden abgewickelt. So verfügt der Onlineshop über die Voraussetzungen, um Onlinekunden als Stammkunden zu pflegen, ihnen personalisierte Angebote zu unterbreiten und Community-Funktionen einzuführen.

Da der Onlineshop nur periodisch Daten mit dem ERP-System austauscht, werden die Bestände der Onlinelager auf Hybris redundant geführt. Von ProConcept ERP an Hybris übermittelt werden die Lagerbestände der Onlinelager mit Zuordnung der einzelnen Taschen sowie Artikelstammdaten auf Modellebene (Länderpreise in verschiedenen Währungen, Artikeltexte in verschiedenen Sprachen). Auch Statusinformationen zu laufenden Aufträgen werden übergeben, Mitte 2008 aber noch nicht online angezeigt. In umgekehrte Richtung übermittelt der Onlineshop seine Verkaufsbelege mit Identifikation der einzelnen Tasche, Preis, Rabatt, Kundendaten und Zahlungsinformationen.

Technische Sicht
Die Verteilung der genannten Anwendungen auf Systeme und Standorte zeigt Abb. 3.6. Mit Ausnahme des Onlineshops werden alle zentralen Anwendungen bei FREITAG betrieben. Der Betrieb der Systeme wird durch einen externen Dienstleister sichergestellt.

Abb. 3.6: Die Systemintegration aus technischer Sicht


Abb. 3.6: Die Systemintegration aus technischer Sicht

ProConcept ERP basiert auf dem Datenbanksystem Oracle. Als Betriebssystem wird serverseitig SUN-Solaris eingesetzt. Mitarbeitende arbeiten auf einem proprietären ProConcept-ERP-Client. Für Mitarbeitende in Hamburg ist dabei ein Terminalserver zwischengeschaltet, so dass auf den lokalen Geräten in Hamburg keine spezifische ProConcept-Clientsoftware installiert werden muss. Die 3D-Fotostation bei FREITAG übermittelt die Fotodateien an den Server bei Unic, wo sie mit dem Onlineshop verlinkt werden.

Webauftritt und Onlineshop basieren auf dem Produkt Hybris als technische Plattform. Zur Erzielung von Dynamik wurden zahlreiche Flash-Elemente entwickelt. Zusammen mit dem Fotoserver für die 3D-Ansichten der Taschen werden die Server für die Onlinelösungen bei Unic Internet Solutions gehostet.


4. Projektablauf und Betrieb

Investitionsentscheidung
In Kapitel 5.2.1 wurden Ausgangslage und Anstoss für den zwischen 2005 und 2007 realisierten organisatorischen Generationenwechsel bei FREITAG beschrieben. Eine Professionalisierung der eigenen Organisation wurde als Voraussetzung für ein weiteres Wachstum angesehen. Man hatte eine Vorstellung von den Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung durch ein ERP-System und schätzte diese ab. Auf der Kostenseite wurden Angebote eingeholt. In einem Projektantrag wurden erwartete Nutzenaspekte und Kosten aufgelistet, ohne eine detaillierte Investitionsrechnung aufzustellen. Die Projekte ERP-System und Onlineshop waren zwei Projekte auf einer deutlich längeren Liste von Investitionsbedürfnissen – sie wurden zur Realisierung ausgewählt als man der Auffassung war, dass die Rahmenbedingungen stimmten und die anvisierten Ziele mit genügend hoher Sicherheit erreicht werden können. Das entspricht der inkrementellen Herangehensweise an die Entwicklung von FREITAG: Phantasie und Ideen gehen bisweilen weit voraus, realisiert wird aber ohne langfristig bindende Planung in überschaubaren Schritten. Da in der Geschäftsleitung über die langfristig angestrebte Entwicklung von FREITAG weit gehendes Einvernehmen besteht, liegt das Augenmerk bei den Projekten auf der Identifikation geeigneter Umsetzungsmassnahmen und der Erschliessung von Optionen für künftige Entwicklungsmöglichkeiten.

Entstehung und Roll-out der Lösung
2005 wurde das neue ERP-System eingeführt. Der Auswahl des Systems und Einführungspartners ging eine Evaluation durch das Beratungsunternehmen intelligent systems solutions (i2s) GmbH voraus. Ausschlaggebend für die Auswahl von ProConcept ERP war die Kompetenz im Umgang mit Unikaten, die das Unternehmen insbesondere in der Uhrenindustrie aufzeigen konnte. Auf die Nutzung preislich deutlich günstigerer Angebote hatte FREITAG verzichtet, weil deren Anbieter nicht genügend Erfahrung oder Zukunftssicherheit aufwiesen. Der Projektplan hatte die Stationen Analyse, Prototyp, Testing und Implementierung. Die Fotostationen für die Planen und Frontalansichten der Taschen waren von Beginn weg als externe Datenlieferanten geplant, sie wurden von der Einzelfirma Betabong Klaus Kreation realisiert. Nach der ERP-Einführung wurde die Lösung erweitert, z.B. um die Kommissionierung der Taschen in Boxen, um die Anbindung der POS-Kassen der Flagship Stores, um den zweiten Mandant für Hamburg und schliesslich um die Einbindung des Onlineshops.

Aufbauend auf den neuen Backoffice-Prozessen wurde das Projekt zur Erstellung eines neuen Webauftritts mit einem professionellem Onlineshop im Herbst 2006 lanciert. Als Realisierungspartner ging Unic Internet Solutions aus einer Ausschreibung hervor. Unic hatte von vorne herein eine Lösung vorgeschlagen, die auf dem System Hybris als technische Plattform aufsetzt. Unter mehreren in Frage kommenden Anbietern machte Unic im Hinblick auf den konzeptionellen Lösungsansatz das wirtschaftlich beste Angebot. Die Realisierung wurde in drei Etappen aufgeteilt, wovon die erste Etappe bereits ein halbes Jahr nach dem Zuschlag im Herbst 2007 live geschaltet wurde. Gegenstand der ersten Etappe war der Aufbau der technischen und organisatorischen Basis für Website und Onlineshop. Dabei gab es auch technische und organisatorische Herausforderungen zu lösen, z.B. die Entwicklung der Fotografiermaschine für effizient durchführbare Rundumaufnahmen und die automatische Zuordnung der entstehenden Dateien zu den richtigen Produkten. Die folgenden Phasen fokussieren auf Marketingmassnahmen zur Erhöhung des Umsatzes je Kunde und der Kundenzahl, den Einbezug von Handelspartnern und die weitere Internationalisierung. Insbesondere bei der Internationalisierung werden vom Produkt Hybris Vorteile erwartet, da es umfassende Parametrisierungsmöglichkeiten sowie Basiskonfigurationen für länderspezifische Gegebenheiten wie unterschiedliche Mehrwertsteuer, Währung oder Versandkosten bietet.

Laufender Unterhalt
FREITAG lässt seine IT-Infrastruktur durch einen externen Dienstleister betreiben. Website und Onlineshop werden von Unic Internet Solutions gehostet. An diesen werden noch laufend Optimierungen und Erweiterungen vorgenommen. Support und Updates für das ERP-System wird von Sage Pro-Concept über einen Wartungsvertrag gewährleistet.
FREITAG intern sind drei Personen für den Betrieb und Unterhalt der Lösungen verantwortlich: Ein Direct Sales Manager, der sich um alle kunden- und absatzseitigen Belange kümmert, ein Content Manager, der für den inhaltlichen Unterhalt der Website verantwortlich ist, sowie ein ERP-Manager, der sich spezifisch um das ERP-System und die damit verbundenen Belange wie Datenqualität oder Anliegen aus dem Bereich Finanzen/Controlling kümmert.


5. Erfahrungen

Nutzerakzeptanz
Das beschriebene Projekt hat interne und externe Auswirkungen.
Die Einführung des ERP-Systems und die damit verbundene Umstellung der Prozesse war eine grosse Herausforderung für FREITAG. Da es zuvor viele individuelle Gewohnheiten und liebgewonnene Tools auf Excel-Basis gab, fiel manchen Anwendern die Umstellung schwer. Vielen Mitarbeitenden waren auch die Mechanismen eines integrierten Systems und durchgängiger Prozesse nicht vertraut, so dass ihnen die Folgen bei abweichendem Verhalten nicht bewusst waren. Beispiele dafür sind das Verständnis für die Notwendigkeit von Lagerbuchungen, auch wenn man selbst gerade keinen Beleg benötigt, oder die Erfordernis umfassender Angaben zu einer Adresse, weil diese in mehreren Sichten genutzt werden soll. Die Funktionen des neuen Systems wurden Mitte 2008 in den meisten, aber nicht in allen vorgesehenen Bereichen durchgängig genutzt. Dabei bleibt offen, ob das System den Anforderungen nicht gerecht wird oder ob die Anwender das System resp. die vorgesehenen Abläufe nicht richtig verstanden haben. Einige neue Funktionen, z.B. die Steuerung der Planenauswahl auf Basis der Abverkaufsdaten, konnten in der Startphase noch gar keine befriedigenden Ergebnisse liefern, da noch keine Abverkaufsdaten vorlagen. Erschwert wurde das Projekt auch durch eine relativ hohe Fluktuation bei den Projektbeteiligten bei FREITAG. Der Aufwand zur Hinführung der Mitarbeitenden auf die neue Organisation war insgesamt unterschätzt worden. In der Folge wurden mehr Schulungsmassnahmen veranlasst, nicht zuletzt, um die Datenqualität hoch zu halten.

Extern werden die Massnahmen in erster Linie durch den neuen Webauftritt und Onlineshop wahrgenommen. Dort fanden sie aussergewöhnlich viel Beachtung, z.B. erzielte die Lösung beim Branchenwettbewerb Best of Swiss Web 2008 Auszeichnungen gleich in mehreren Kategorien. Auch die Onlineumsätze sind markant gestiegen. Verbesserungspotenziale wurden aber auch hier gefunden, z.B. eine Verbesserung der Benutzerfreundlichkeit (Usability), weil nicht alle Kunden die Funktion zur Rundumbetrachtung der Taschen finden.

Zielerreichung und bewirkte Veränderungen
Das Ziel, eine neue organisatorische Basis für Wachstum und Internationalisierung zu schaffen, wurde erreicht. Die Geschäftsprozesse sind heute orts- und abteilungsübergreifend durchgängig gestaltet und werden von einer integrierten Business Software unterstützt. Dadurch sind die Effizienz der Abläufe und die Transparenz über die verfügbaren Ressourcen sowie den Geschäftsverlauf deutlich gestiegen. ERP-System und Onlineshop sind standortübergreifend nutzbar, mandantenfähig und internationalisierbar. Sie bilden damit eine gute Ausgangsbasis auch für eine internationale Expansion.
Seit der Umstellung auf ProConcept ERP wird jede einzelne Tasche mit ihren Merkmalen wie Farbe und Design, Seriennummer, Fertigungslos und Foto verwaltet. Bei Auslieferungen werden die Seriennummern erfasst. So kann FREITAG den Fertigungs- und Vertriebsweg für jede einzelne Tasche nachvollziehen. Ist die Seriennummer nicht bekannt, lässt sich die Suche anhand von Farbe und Design eingrenzen und eine endgültige Identifikation anhand des Fotos vornehmen. Bei allfälligen Grauimporten liesse sich so der Weg der Ware nachvollziehen.

Das Ziel, den Onlineumsatz des Jahres 2006 zu verdoppeln, wird wie angestrebt binnen zwei Jahren erreicht werden. Die Retourenquote bei online bestellten Taschen verringerte sich dank der neuen Rundumansichten um 70 %. Die neu gestalteten Prozesse in der Auftragsabwicklung für die Onlinebestellungen führten dazu, dass die gleiche Anzahl Mitarbeitende heute mehr als doppelt so viele Aufträge abwickeln kann als vorher.

Investitionen
Die Gesamtkosten für die Einführung von ProConcept ERP beliefen sich inkl. der IT-Infrastruktur, Beratung, Anpassungen im System etc. auf etwa 420'000.- CHF für zunächst 20 Systemnutzer. Mitte 2008 arbeiteten bereits 30 Personen auf dem ERP-System.
Für einen Webauftritt und die Basisstufe des E-Commerce in dem Umfang, wie sie bei FREITAG realisiert worden sind, muss mit Kosten von 350'000.- bis 400'000.- CHF gerechnet werden. Für die Infrastruktur der 3D-Fotostation sowie die Einrichtung der Onlinelager in Zürich und Hamburg fielen 140'000.- CHF an.


6. Erfolgsfaktoren

Spezialitäten der Lösung
Im Projektverlauf setzte FREITAG auf professionelle Partner. Das ERP-System wurde mit Hilfe eines Spezialisten in diesem Bereich evaluiert. Mit ProConcept ERP wurde eine Lösung gefunden, die den Anforderungen des Umgangs mit Unikaten gerecht wird. Unic Internet Solutions ist Spezialist für Webauftritte und E-Commerce. Alle Anbieter sind Experten ihres Fachs und können zahlreiche Referenzen vorweisen. Man kann hier von einem Best-of-breed-Ansatz sprechen, nach dem für jeden Bereich die optimale Lösung gesucht wird und nicht der bestmögliche Kompromiss. Die beiden Lösungen sind über einen periodischen Datenaustausch miteinander integriert. Es handelt sich um eine lose Koppelung, bei der kein System Funktionalität des anderen nutzt. Deshalb müssen Datenredundanzen und -disharmonien in Kauf genommen werden. Jeder Bereich kann dadurch unabhängig vom anderen und damit schneller und einfacher weiterentwickelt werden. Bereichsübergreifenden Funktionen sind aber erschwert, z.B. wenn Endkunden mit einer Onlineidentität in einem Flagship Store identifiziert werden sollten.

Die visuelle Qualität der Produkte ist ein entscheidender Erfolgsfaktor für deren Verkauf. Folglich wird die Visibilität der Ressourcen in den Produktionsprozess eingeführt, was zu insgesamt drei Fotostationen führte. Die Fotos werden automatisch mit den Datensätzen der jeweiligen Ressourcen verknüpft und auf Etiketten etc. wiederholt verwendet.

Reflexion der Wettbewerbsvorteile
Durch den organisatorischen Generationenwechsel hat FREITAG die Grundlagen für künftiges Wachstum geschaffen. Effiziente und durchgängige Prozesse ermöglichen heute, Unikate über unterschiedliche Verkaufskanäle mit den für sie geltenden Anforderungen ertragbringend zu verkaufen. Die IT-Infrastruktur ist dabei für ein internationales Geschäft ausgelegt.

FREITAG kann den für sie besonders wertvollen Verkaufskanal Onlineshop gezielt ausbauen. Der Webauftritt spiegelt die Unternehmensphilosophie von FREITAG wider, die Lösung wurde aber bewusst aus der Sicht des Kunden entwickelt. Das Design des Onlineshops verfolgt die Grundidee, den Auswahlprozess eines Kunden in einem Ladengeschäft virtuell nachzubilden. Durch die Zusammenarbeit mit dem Partner Unic Internet Solutions, der über viel Erfahrung im Onlinemarketing verfügt, ist der Zugang zu dem für einen weiteren Ausbau der Onlineverkäufe erforderlichen Know-how gewährleistet.

Lessons Learned
Mit seinem inkrementellen Vorgehen schaffte FREITAG den organisatorischen Wandel Schritt für Schritt aber kontinuierlich und nachhaltig. Dabei ist man nie fertig, auch wenn wesentliche Meilensteine erreicht wurden. Alle Lösungen konnten nach ihrer Einführung noch verbessert werden. Das kennzeichnet auch einen kontinuierlichen Lernprozess.

Bei der Organisationsentwicklung ist der Faktor „Mensch“ gleichzeitig Potenzial und Herausforderung. Es reicht nicht, wenn einige Vordenker den Weg zur neuen Organisation gehen, sondern alle Mitarbeitenden müssen für die Veränderungen gewonnen und mitgenommen werden. In einem relativ kleinen Unternehmen wie FREITAG können durch Mitarbeiterfluktuation Unterbrüche und Know-how-Verlust eintreten.


Betreiber der Lösung

Freitag Lab AG
Immanuel Streuli, CEO
Branche: Herstellung Konsumgüter, Produktion und Verkauf von Taschen
Unternehmensgrösse: MittelunternehmenFreitag Lab AG

Lösungspartner

Philipp Spycher, Projektleiter
Sage Schweiz AG
Daniel Risch
Unic AG

Autoren der Fallstudie

Anke Dreiling, Ralf Wölfle
Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW

06. August 2008
Dreiling; Anke; Wölfle; Ralf (2008): Fallstudie FREITAG Lab. AG; in: Wölfle; Ralf; Schubert; Petra (Hrsg.): Wettbewerbsvorteile in der Kundenbeziehung durch Business Software; S. 47 - 66; München: Hanser Verlag; 2008.
PDF zur Fallstudie, wie diese in der eXperience Buchreihe erschienen ist.
1908
freitag-proconcept
https://www.experience-online.ch/de/9-case-study/1908-freitag-proconcept
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