Strukturierter Wissenstransfer im Schadenmanagement der Helvetia

10. November 2008



Die effiziente und effektive Bearbeitung von Schadenfällen ist die Visitenkarte der Helvetia Versicherungen. Jeder Fall bedingt sorgfältige Abklärungen. Wenn beispielsweise eine aufwändig gesicherte Baugrube einstürzt, müssen komplexe bautechnische und juristische Abklärungen vorgenommen werden, SIA-Normen, Ausführungsvorschriften der Materiallieferanten, Berechnungen in den Plänen, Werk-, Architekten- und Ingenieurverträge, Gesetzesvorschriften und Gerichtsurteile müssen beigezogen und geprüft werden. Damit der Mitarbeitende in der Schadenabteilung in solchen Situationen den Überblick behält und sich trotz hoher Komplexität auf das Wesentliche konzentrieren kann, hat die Helvetia Versicherung gemeinsam mit der Helvetia Consulting AG ein „Claims Knowledge Transfer“ System entwickelt und eingeführt.


1. Schadencenter der Helvetia Versicherungen

Wenn eine frisch ausgehobene und aufwändig gesicherte Baugrube einstürzt, bedeutet das einen grossen Rückschlag für das Bauprojekt. Aufgrund von ersten Einschätzungen durch Baufachleute waren die tagelangen, sintflutartigen Regengüsse daran schuld. Im Zuge der Abklärungen stellt sich heraus, dass weitere Einflüsse eine Rolle spielten. Die Einrichtungen für das Ableiten des Wassers im Boden waren ungenügend. Wenn dann auch noch das verwendete Material und die Art der Ausführung bei der Sicherung der Baugrube bemängelt werden, wird es kompliziert – auch für den Versicherer. Denn mittlerweile kommen mehrere Baufachleute als Mitverursacher des Schadens in Frage. Wer hat warum und wann welche Fehler gemacht? Wie kann die Baugrube wieder hergestellt werden? Wer übernimmt die Kosten?

„Dank dem „Claims Knowledge Transfer“ konnten wir individuelle Ablagen
und Ressortarchive mit einem zentral gepflegten, stets aktuell gehaltenen Wissensmanagement ablösen. Dies erlaubt eine schnelle und korrekte
Schadenprüfung und -bearbeitung.“
Dr. Heinz-Joachim Ritter


Damit diese Fragen beantwortet werden können, müssen komplexe bautechnische und juristische Abklärungen vorgenommen werden. SIA-Normen, Ausführungsvorschriften der Materiallieferanten, Berechnungen in den Plänen, Werk-, Architekten- und Ingenieurverträge, Gesetzesvorschriften und Gerichtsurteile müssen beigezogen und geprüft werden. Damit der Mitarbeitende in der Schadenabteilung in solchen Situationen den Überblick behält und sich trotz hoher Komplexität auf das Wesentliche konzentrieren kann, hat die Helvetia Versicherung gemeinsam mit der Helvetia Consulting AG das „Claims Knowledge Transfer“ (CKT-)System entwickelt und eingeführt.


2. Informationskritische Schadenprüfung

Die effiziente und effektive Bearbeitung von Schadenfällen ist die Visitenkarte jeder Versicherung. Jeder Fall muss schnell und korrekt bearbeitet werden – denn wer will im Schadenfall lange auf den Versicherungsentscheid warten? Diese Erwartung stellt die Versicherungen vor eine Herausforderung. Während der übergeordnete Prozess des Schadenmanagements bereits weitgehend standardisiert ist (vgl. Abbildung 1), ist dies bei der inhaltlichen Prüfung und Bearbeitung des Schadens aufgrund der Individualität der Fälle schwierig zu gestalten.

Abb. 1: Schadenmanagement als Kernprozess


Abb. 1: Schadenmanagement als Kernprozess

Zur Prüfung und Bearbeitung eines Schadenfalls müssen die Sachbearbeiter alle relevanten Informationen zu einem Themenbereich sichten, qualitativ bewerten und gewichten. Zur Entscheidungsunterstützung ziehen sie eine Vielzahl von Informationen herbei:

  • Interne Dokumente wie Handbücher, Fachanweisungen, Berechnungsprogramme und weitere Hilfsmittel
  • Externe Dokumente wie Gesetzestexte, Rechtsverordnungen, Gerichtsentscheide, Homepages und sonstige Regelungen (FIS, SIA, SUVA etc.)
  • Kontaktinformationen und Qualifikationen von Experten, wie beispielsweise Fachärzten oder spezialisierte Ingenieuren


Diese Informationen waren lange dezentral in verschiedensten internen und externen Informationssystemen abgelegt. Um einen Schadenfall beurteilen zu können, mussten die Mitarbeitenden nicht nur die relevanten Themen identifizieren, sondern auch die entsprechenden File-Ablagen ausfindig machen. Interne Dokumente befanden sich in team-, bzw. abteilungsinternen Ablagen oder im Intranet, wurden per E-Mail zugeschickt oder sogar in Papierform an alle betroffenen Sachbearbeitenden verteilt. In einem Diskussionsforum wurden Informationen einfach strukturiert ausgetauscht. Externe Dokumente mussten auf den entsprechenden Fachseiten oder mittels Suchanfrage im Internet gesucht werden. Um aufwändige Recherchen für ähnliche Fragestellungen zu vermeiden, haben die Mitarbeiter relevante Dokumente zu einzelnen Themengebieten gesammelt und diese lokal auf dem Desktop oder in Papierform in Ordnern abgelegt.

Diese dezentrale Informationsablage und -pflege hatte verschiedene negative Folgen:

  • Zeitverlust und Zeitverzögerungen: Die Recherchen waren zeitaufwändig und es kam zu Verzögerungen, da Informationen nicht sofort verfügbar waren.
  • Doppelspurigkeiten: Identische Fragestellungen wurden wiederholt recherchiert.
  • Nicht-Einbezug relevanter Informationen: Oft waren sich Sachbearbeiter nicht bewusst, dass bestimmte Informationen für sie im aktuellen Zusammenhang relevant sind. Weil keine Kontextinformationen zur Verfügung standen, konnten gewisse Informationen systematisch vergessen werden.
  • Qualitätseinbussen: Aufgrund der individuellen Datensammlungen konnte die Aktualität der Informationen nicht ausnahmslos gewährleistet werden. Ausserdem standen nicht allen Mitarbeitenden dieselben Informationen zur Verfügung.
  • Personenabhängigkeit: Der personenzentrierte Informationsbeschaffungsprozess schaffte Abhängigkeiten von Einzelpersonen und deren Verfügbarkeit.

3. Claims Knowledge Transfer (CKT)

Semantisches Wissensnetz
In enger Zusammenarbeit mit den Fachverantwortlichen der Helvetia Versicherung analysierte die Helvetia Consulting AG die Wissensflüsse und den jeweiligen Wissensbedarf der Mitarbeiter. Die bestehende Organisationsstruktur, Prozesse und die aktuelle Struktur der Informationsablagen wurden dabei berücksichtigt. In einer zweimonatigen Konzeptions- und Realisierungsphase wurde so ein Wissensnetz im Bereich der Haftpflicht- und Personenschäden konzipiert. Schritt für Schritt wurde das Wissensnetz auf die weiteren Themenbereiche ausgedehnt.

Das Wissensnetz wurde basierend auf der Software L4 Semantic NetWorking in einem semantischen Netz abgebildet. Das semantische Netz (CKT-System) bildet logische Zusammenhänge zwischen Themenbereichen des Schadenmanagements ab. Die den Themenbereichen zugeordneten Dokumente sind nicht physisch im CKT-System abgelegt, sondern über Schlagworte verlinkt. Folglich können die Sachbearbeiter mittels einer einzigen Oberfläche auf sämtliche Ablagen zuzugreifen (vgl. Abbildung 2).

Das Wissensnetz wird aus verschiedenen Quellen gespiesen:

  • Ausgewählte Fachverantwortliche sorgen dafür, dass die im CKT-System verlinkten Dokumente korrekt, aktuell und vollständig sind. Dabei sind sie stark auf das aktive Mitwirken aller Benutzer angewiesen. Wer auf wichtige Informationen (beispielsweise Fachartikel) stösst oder im CKT-System Dokumente entdeckt, die nicht mehr aktuell sind, kann direkt im System den zuständigen Fachverantwortlichen informieren. Dieser prüft, bewertet und indexiert die erhaltenen Informationen und bindet sie entsprechend ein.
  • Die zentralen Dokumentenablagen (interne Fileablage, Lotus Notes) werden ebenfalls über das CKT-System zugänglich gemacht.
  • Relevante Quellen im Internet – beispielsweise die Webseite des Bundesamtes für Gesundheit – werden ebenfalls analysiert und automatisch mit dem semantischen Wissensnetz verknüpft.
Abb. 2: Architektur der Lösung

Abb. 2: Architektur der Lösung

Vielfältige Zugriffmöglichkeiten
Alle 180 Mitarbeitenden des Schadencenters benutzen das CKT-System und greifen im Durchschnitt 38 Mal pro Monat darauf zu. Im Juni 2008 sind bereits 2‘000 Dokumente mit Schlagworten versehen und im Wissensnetz abgebildet. Auf weitere 220‘000 Dokumente greift das System über die vordefinierten Internetquellen zu. Täglich kommen neue Informationen hinzu. Mit einem Klick können die Sachbearbeiter eine Liste mit relevanten Dokumenten aus allen angeschlossenen Wissensquellen erstellen. Dabei ist irrelevant, ob sie über die Suchfunktion, den Schadentyp, die verwendeten Hilfsmittel, die zugrundeliegenden Gesetze und Rechtsentscheide oder über die relevanten Versicherungsprodukte suchen. Dank Kontextinformationen und der Vernetzung und Bewertung wird heute nicht mehr einfach Information sondern Wissen vermittelt.


4. Strukturierter Wissenstransfer

Servicequalität
Der bessere Wissenstransfer steigert die Servicequalität und damit die Kundenzufriedenheit. Akkurate und verlässliche Informationen erlauben eine effizientere Bearbeitung der Schadenfälle. Im Normalfall stehen sämtliche benötigte Entscheidungsgrundlagen auf Knopfdruck zur Verfügung und der Kunde erhält schnell eine korrekte Auskunft.

Einheitlichkeit
Die standardisierte Wissensbasis gewährleistet die Einheitlichkeit der Entscheidungen. Allen Sachbearbeitern stehen dieselben Informationen zur selben Zeit zur Verfügung. Das Risiko von unterschiedlichen Entscheidungen wird dadurch beträchtlich gesenkt.

Wissen bei Bedarf
Die Sachbearbeiter müssen sich nicht mehr zu sämtlichen Themengebieten Wissen auf Vorrat aneignen, sondern können bei Bedarf auf das bereitgestellte Wissen zugreifen. Die Einführung von neuen Mitarbeitenden wird ebenfalls erleichtert. Die Kontextinformationen stellen sicher, dass Informationen auch dann gefunden werden, wenn sie gar nicht bewusst gesucht werden. Dadurch fällt auch die Unsicherheit weg, ob wirklich alle wesentlichen Quellen miteinbezogen wurden.

Wirtschaftlichkeit
Durch die Standardisierung konnten Prozesskosten und Durchlaufzeiten reduziert werden. Wird von einer Senkung der durchschnittlichen Bearbeitungsdauer eines Schadenfalles von nur fünf Minuten ausgegangen, waren die Projektkosten bereits nach dem ersten halben Jahr amortisiert. Die Senkung der Bearbeitungsdauer ist aber nur Teil der Kostenoptimierung: Die Qualität der Entscheidungsgrundlagen führt zu beträchtlichen Einsparungsmöglichkeiten. Fachlich suboptimale Schadensregulierungen und eventuelle kostenintensive Verfahren können vermieden werden. Das semantische Netz eignet sich sowohl für diejenigen 10% der Schadenfälle, die mehr als 90% der Schadensumme generieren als auch für die übrigen 90% der Fälle. Die 10% sind komplexe und zeitintensive Fälle, bei denen das Wissen um die Prüfung und Beurteilung entscheidende Auswirkungen auf die Höhe der ausgezahlten Schadensumme hat.

Bei Fällen, die schnell und effizient bearbeitet werden können, kommt das CKT-System ebenfalls regelmässig zum Einsatz. Aufgrund von Multiplikatoren-Effekten kann selbst ein einzelner Zugriff auf das CKT-System grosse Einsparungen bringen.

"Auch bei Alltagsentscheiden kommt das System zum Tragen, da sich dank genaueren Einschätzungen und der hohen Anzahl Fälle schnell beträchtliche
Einsparungen erzielen lassen.“
Dr. Heinz-Joachim Ritter

5. Im Zentrum: der Mensch

Der Mensch mit seinen individuellen Kenntnissen und Erfahrungen ist und bleibt die entscheidende Instanz in der Schadenbeurteilung – auch nach Einführung des CKT-Systems. Das Involvement aller Beteiligten war ausschlaggebend für den Erfolg. Sowohl von den Sachbearbeitern (Benutzer) als auch von den Fachverantwortlichen (Administratoren) war ein Umdenken gefordert. Anstatt sich eine eigene Dokumentensammlung lokal auf dem Desktop anzulegen oder in Papierform in einem Ordner aufzubewahren, prüfen die Sachbearbeiter heute Informationen immer direkt im System und geben ihr eigenes Wissen weiter. Dies wird insbesondere für Fachverantwortliche zur Herausforderung, da diese sich traditionellerweise über ihr Spezialwissen bei der Fallbearbeitung differenzieren und profilieren.

Das Engagement der Benutzer und Administratoren war und ist jedoch vorbildlich. Das Schadenmanagement hat die strategische Bedeutung des Projekts von Anfang an erkannt. Ein hohes Management-Commitment war unabdingbar für die Einführung dieses Systems – es braucht Visionäre im Unternehmen. Der Umgang mit dem CKT-System wurde in die Zielvereinbarungen aller Mitarbeitenden verankert. Je nach Funktion und Position wurden lediglich Zugriffsquoten, oder aber eine Mindestanzahl eingereichter qualitativer Beiträge vereinbart.

„Das System kann nur so gut sein, wie es von den Mitarbeitenden aktiv bewirtschaftet wird.
Der Faktor Mensch bleibt entscheidend für den Erfolg.“
Dr. Heinz-Joachim Ritter


Basierend auf der Erfolgsgeschichte des CKT-Systems in der Schweiz konnte die Lösung innert kürzester Zeit für das Schadencenter der Helvetia in Deutschland adaptiert und eingeführt werden.


Owner/s of the solution

Helvetia
Heinz Joachim Ritter, Fachverantwortlicher Haftpflicht-/Personenschaden
Industry: Banks/Insurance companies/Full-service finance
Company size: large-scale enterpriseHelvetia

Solution partner/s

Urs Hautle, Senior Consultant/Partner
Helvetia Consulting AG

Case study author/s

Nicole Scheidegger, Valerie Sticher
Sieber & Partners

10. November 2008
Nicole Scheidegger; Norman Briner; Valerie Sticher; Pascal Sieber; Marc André Hahn; Alfred Bertschinger; Gerrit Taaks (2008): Die Organisation des E-Business VIII. Knowledge Economy: Fallstudien über die Bedeutung der Informatik und Telekommunikation zur Steigerung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit. Dr. Pascal Sieber & Partners AG; Bern. ISBN 978-3-033-01798-6

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